ADHS im Erwachsenenalter – wenn der Kopf nie stillsteht
- alinameyerdiercks
- 17. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
„Ich wollte nur kurz Mails checken … und bin jetzt drei Stunden auf YouTube gelandet.“ Klingt lustig – bis es das nicht mehr ist.
Viele Erwachsene kennen das Gefühl, dauernd abgelenkt zu sein, innerlich getrieben, schnell begeistert – und genauso schnell überfordert. Was oft als „chaotisch“, „sprunghaft“ oder „zu sensibel“ abgetan wird, hat bei manchen einen Namen: ADHS.

ADHS ist keine Kinderkrankheit
Etwa 4 % aller Erwachsenen weltweit leben mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (Faraone et al., 2015).
Das Problem: Die meisten von ihnen wissen es nicht. Sie haben gelernt, sich irgendwie durchzuschlagen – mit To-do-Listen, Kaffee und schlechtem Gewissen.
ADHS verschwindet nicht mit dem Schulabschluss. Es verändert nur sein Gesicht. Statt Zappeln im Stuhl sind es heute:
37 offene Browser-Tabs,
zehn angefangene Projekte,
und ein Kopf, der nie stillsteht.
Wie sich ADHS bei Erwachsenen zeigt
Bei Erwachsenen stehen weniger die klassische Hyperaktivität im Vordergrund, sondern eher die mentale Unruhe:
Konzentration? Schwierig, wenn jedes Geräusch, jede Idee und jede Emotion gleichzeitig anklopft.
Organisation? Der Wille ist da – aber die Zeitplanung wohnt in einem Paralleluniversum.
Impulsivität? Schnell gesagt, später bereut.
Emotionen? Intensiv. Laut. Echt.
ADHS ist keine Frage von Disziplin. Es ist neurobiologisch erklärbar – eine andere Art, wie das Gehirn Reize filtert und Dopamin verarbeitet. Und das ist wichtig zu wissen, denn: Wissen schafft Verständnis.
Warum die Diagnose oft spät kommt
Viele Betroffene haben Jahrzehnte geglaubt, sie seien einfach „zu wenig strukturiert“, „zu emotional“ oder „nicht belastbar genug“. Sie haben sich angepasst, kompensiert, durchgebissen – bis es irgendwann nicht mehr ging.
Eine späte Diagnose kann schmerzhaft und erleichternd zugleich sein: Endlich ergibt das Chaos Sinn. Endlich ist da nicht nur Selbstkritik, sondern Erklärung. Und damit auch: Handlungsspielraum.
Diagnose – hilfreich, aber kein Etikett
Etiketten sind für Flaschen, nicht für Menschen. Und trotzdem kann eine Diagnose sehr hilfreich sein. Wie immer gilt: Es kommt drauf an.
Wenn man jahrelang glaubt, einfach „zu viel“, „zu unruhig“ oder „zu chaotisch“ zu sein, kann ein klarer Name plötzlich Sinn stiften. Eine ADHS-Diagnose kann erklären, warum der Kopf funktioniert, wie er eben funktioniert – und dass das nichts mit Willensschwäche zu tun hat.
Aber: Eine Diagnose ist kein neues Label für die Bio. Sie soll Orientierung geben, keine Identität ersetzen. Sie kann der Anfang von Selbstverständnis sein – oder die Einladung, sich hinter drei Buchstaben zu verstecken. Der Unterschied liegt darin, was man daraus macht.
Was hilft wirklich – und was nicht
ADHS lässt sich nicht „wegcoachen“. Aber es lässt sich managen. Mit einem Mix aus Wissen, Struktur, Humor – und manchmal auch Medikation.
Mögliche Bausteine:
Medikamentöse Unterstützung (z. B. Methylphenidat oder Amphetamine) kann helfen, das Dopamin-System zu stabilisieren.
Psychotherapie – meist verhaltenstherapeutisch – hilft, Muster zu verstehen und Tools zu entwickeln, die wirklich funktionieren.
Coaching & Alltagshilfen – von Kalender-Apps über Pomodoro-Timer bis zu realistischen Wochenplänen.
Umfeldarbeit – Menschen einweihen, Strukturen schaffen, Kommunikation anpassen.
Wichtig ist: Kein Tool funktioniert für alle gleich. ADHS braucht individuelle Lösungen, keine Standardrezepte.
Und das Gute daran:
Viele ADHS-Menschen sind kreativ, empathisch, schnell im Denken – sie sehen Verbindungen, die andere übersehen. Wenn man lernt, den eigenen Kopf zu verstehen statt ihn zu bekämpfen, wird aus Chaos oft Kreativität. Und aus „zu viel“ wird einfach: anders verdrahtet.
Zu guter Letzt: Der Hype um ADHS – zwischen Aufklärung und Selbstinszenierung
ADHS ist endlich sichtbar. Und das ist gut. Doch die Welle an Selbstdiagnosen auf Social Media hat eine Schattenseite: Zwischen ehrlicher Aufklärung und TikTok-Trend verschwimmt die Grenze.
Wenn jedes Vergessen, jede Emotion, jede Ablenkung sofort „mein ADHS“ ist, verlieren wir den Blick für die Komplexität dahinter. ADHS ist kein Filter, der erklärt, warum das Leben manchmal anstrengend ist. Es ist eine neurologische Störung, die echte Einschränkungen mit sich bringt – und differenzierte Diagnostik braucht, nicht einen 30-Sekunden-Test.
Gleichzeitig steckt im öffentlichen Diskurs auch etwas Wertvolles: mehr Sichtbarkeit, weniger Scham, mehr Selbstakzeptanz. Die Kunst liegt darin, beides zu halten – die Ernsthaftigkeit der Störung und die Leichtigkeit, darüber zu sprechen.


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